Merkur, Nr. 651, Juli 2003
Siegfried Kohlhammer
Die Wiederentdeckung und Neugestaltung des muslimischen Spanien
Im Vorwort zu der vorzüglichen zweibändigen Aufsatzsammlung The Legacy of Muslim Spain, die 1992 anläßlich des fünfhundertsten Jahrestages des Falls Granadas und des endgültigen Endes der muslimischen Herrschaft in Spanien erschien, bringt die Herausgeberin Salma Khadra Jayyusi ihre »große Freude« darüber zum Ausdruck, bei der Arbeit an diesem Werk festgestellt zu haben, wie viele Gelehrte aus der »westlichen Welt« »neuerdings« ihren »Enthusiasmus und ihre Hochachtung« für das Thema teilten. (Von den knapp vierzig Beiträgern kommen etwa vier Fünftel aus der »westlichen Welt«.) »Die frühere absichtliche Nichtbeachtung einer weitausgreifenden und glänzenden historischen Präsenz während des gesamten Mittelalters von Arabern und arabisierten Muslimen (und sogar arabisierten Nichtmuslimen), die das Erbe menschlicher Intellektualität und Kreativität nicht nur bewahrten, sondern erheblich vermehrten, stellte, um es so milde wie möglich auszudrücken, ein lange geleugnetes historisches Verbrechen dar. Ich bin sehr froh, daß sich nun eine wachsende Zahl westlicher Gelehrter der Wahrheit annimmt.«
Welche Fähigkeiten auch immer Jayyusi die Herausgeberschaft dieses Werkes eintrugen, Kenntnisse von der Geschichte der Wiederentdeckung und wissenschaftlichen Erforschung Al-Andalus’*)sind es wohl nicht gewesen. Man könnte diesen Ausfall kopfschüttelnd den zahlreichen Belegen unter der Rubrik »Welt des Islam / Die beleidigte Leberwurst« hinzufügen und es dabei bewenden lassen, wenn seine Widerlegung nicht einiges Interessante zutage förderte. Die Wiederentdeckung der Kultur des muslimischen Spanien und die Anerkennung seiner Bedeutung für die europäische Kultur sowie ihre Idealisierung zu einem Goldenen Zeitalter der Toleranz fand in der »westlichen Welt« statt – im 18. und 19. Jahrhundert.
»Spanien war die glückliche Gegend, wo für Europa der erste Funke einer wiederkommenden Kultur schlug, die sich denn auch nach dem Ort und der Zeit gestalten mußte, in denen sie auflebte. Die Geschichte davon lautet wie ein angenehmes Märchen.« »Die Erscheinung selbst, daß an den Grenzen des arabischen Gebiets sowohl in Spanien als in Sizilien für ganz Europa die erste Aufklärung begann, ist merkwürdig und auch für einen großen Teil ihrer Folgen entscheidend.« Soweit Herder. Seiner »Arabertheorie« zufolge waren die Araber die »Lehrer Europas« in den Wissenschaften und Künsten.*) »Herrlich ist der Orient / Über’s Mittelmeer gedrungen«, sang der unvermeidliche Goethe.
Der französische Arabist Henri Pérès hat die Berichte muslimischer Reisender in Spanien im Zeitraum 1610 bis 1930 untersucht; er war erstaunt über die jahrhundertelange indifferente Ignorierung des ehemaligen Al-Andalus seitens der arabischen Welt.*) Bernard Lewis, der sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt hat, stellt fest, daß nach dem umfangreichen Werk al-Maqqaris über die Geschichte und Literatur Al-Andalus’ vom Beginn des 17. Jahrhunderts dieser Teil der islamischen Geschichte im wesentlichen vergessen wurde. Seine Wiederentdeckung »wurde ausschließlich von Europäern geleistet«.*)
1833 erschien in Paris das zweibändige Werk des französischen Historikers Louis Viardot Essai sur l’histoire des arabes et des maures d’Espagne, ein eher populärwissenschaftliches Werk, meint Lewis, das sich aber im Orient als sehr folgenreich erwies. »Die Wiederentdeckung des spanischen Kapitels ihrer Geschichte durch die Muslime läßt sich mit der Veröffentlichung einer türkischen Übersetzung dieses Werks 1863–1864 in Istanbul genau datieren. Eine arabische Übersetzung von Chateaubriands romantischer Erzählung aus dem maurischen Spanien, Le dernier Abencerage, erschien 1864 in Algier. Die türkische Übersetzung Viardots wurde 1886–1887 in vier Bänden neuaufgelegt, gerade zum Zeitpunkt eines wachsenden Interesses der Muslime an Al-Andalus.«
Die Reiseberichte der marokkanischen Gesandten von 1610 bis 1885, soweit sie sich überhaupt zu Al-Andalus und den erhalten gebliebenen architektonischen Zeugen jener Zeit äußern, bringen ihr Bedauern über den Verlust islamischen Gebiets zum Ausdruck und über die Anwesenheit der Ungläubigen dort mit ihrem Polytheismus und ihrer Unreinheit, und sie formulieren fromme Wünsche zur Wiederherstellung des früheren Zustandes.*) Als Ort einer einzigartigen blühenden Kultur, von Wissenschaft und Philosophie, von Pluralismus und Toleranz taucht Al-Andalus in diesen Berichten nicht auf. Ebendies wird nun das Thema der Werke nach 1885, wobei »unermüdlich die Großartigkeit der muslimischen Zivilisation betont wird«. Muslimische Zivilisation, Zivilisation, Zivilisation . . . es wird einem fast zuviel, zumal die verbitterte, gegen Europa gerichtete Polemik einem die Lektüre nicht erleichtert. Verständlich wird das, berücksichtigt man den historischen Kontext und die soziale Stellung der Autoren aus der gebildeten Mittelschicht: Die dicke Bertha im ideologischen Arsenal des westlichen Imperialismus war die Zivilisation – deren Mangel machte die Beherrschten (und noch zu Beherrschenden) unfähig zu Selbstregierung und -verwaltung und zur Teilhabe am allgemeinen materiellen und geistigen Fortschritt der Menschheit und legitimierte die verschiedenen Formen des Eingreifens der imperialen Mächte in diesen Ländern (»mission civilisatrice«, »the white man’s burden«; das Britische Empire, so Queen Victoria, diene »dem Schutz der armen Eingeborenen und der Verbreitung der Zivilisation«).
Der Nachweis, sich zivilisatorisch auf Weltniveau zu befinden (oder zumindest befunden zu haben, also zivilisationsfähig zu sein) und gerade als Beherrscher auf europäischem Boden, als Lehrer Europas – das machte Al-Andalus zu einem so attraktiven Paradigma (ansonsten wären ja zahlreiche andere Beispiele für zivilisatorische Höchstleistungen leicht zu erbringen gewesen, vom Bagdad der Abbasiden bis zu den indischen Großmoguln), war in einer Situation wichtig, in der die islamische Welt sich von allen Seiten bedroht sah oder bereits Teil christlicher Imperien war.
Gerade die Vertreter des gebildeten Mittelstandes, die Träger der antiimperialistischen Bewegung, mußten den Vorwurf mangelnder Zivilisation um so schmerzhafter empfinden, als sie aufgrund ihrer Kenntnis westlicher Gesellschaften auch wußten, daß dies nicht nur imperialistische Ideologie war, sondern im Bereich der Wissenschaften und Technologie, der politischen Systeme und Verwaltungsorganisation etc. der Wirklichkeit entsprach. Und es war generell für die Mitglieder der »besten aller Gemeinschaften«, die Gott selber zur Herrschaft über die Ungläubigen ausersehen hatte, eine schwere Kränkung, die der Äußerung und Linderung bedurfte. Bei M. Kurd Ali klingt das 1922 so: Al-Andalus »ist ein ewig gültiger Beweis für die außergewöhnliche Begabung der Araber für die Wissenschaften und Künste und die radikalste Widerlegung jener, die . . . die zivilisatorischen Verdienste dieses Volkes geleugnet haben . . . das arabisch-muslimische Spanien war die Schule des christlichen Okzidents.«
Erheblich zur Verbreitung des Al-Andalus-Kultes hat auch der populäre Dichterfürst Ahmad Schauki beigetragen, der 1914 aufgrund seiner nationalistischen Aktivitäten von der britischen Protektoratsregierung ins Exil geschickt worden war und nach Spanien ging, wo er bis Kriegsende lebte. Pérès hebt zwei seiner Gedichte mit andalusischer Thematik hervor, die viele Muslime bewegt und andere Dichter zur Behandlung dieses Sujets angeregt haben. So entstand »der Kult um Al-Andalus, der ein so bemerkenswertes Charakteristikum neuerer und moderner islamischer Werke ist«, wie Lewis schreibt. Geschichte und Literatur Al-Andalus’ werden nach 1918 in allen arabischen Ländern obligatorischer Unterrichtsgegenstand und damit gleichsam institutionalisiert. Innerhalb von circa dreißig Jahren war Al-Andalus von einem weißen Fleck auf der Landkarte und im kollektiven Bewußtsein zum Höhepunkt islamischer Zivilisation und Lehrmeister Europas avanciert – und, so darf man hinzufügen, zu einem »angenehmen Märchen«. Aber das war nicht neu.
Wie ging die islamische Welt nun mit dem Faktum um, daß es Europäer waren, die Al-Andalus wiederentdeckt hatten? Das war, wie Lewis schreibt, eine bittere Pille und »wird deshalb im allgemeinen verschwiegen. Einige muslimische >Historiker< haben sich sogar zu der Behauptung verstiegen, daß dieses ruhmreiche Kapitel der muslimischen Geschichte und der via Spanien erfolgte enorme muslimische Beitrag zur europäischen Zivilisation von böswilligen und vorurteilsbehafteten europäischen Historikern aus Feindschaft gegenüber dem Islam absichtlich verborgen gehalten worden seien.« Dieser Verschwörungstheorie ist wohl auch noch 1992 die eingangs zitierte Jayyusi aufgesessen mit ihrem »historischen Verbrechen«.
Noch vor dem Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Ahmad Zaki den Miltonschen Titel Paradise Lost ins Arabische übersetzt und auf Al-Andalus angewandt. »Der Erfolg dieser Formulierung, unermüdlich wiederholt von Dichtern, Literaten und Journalisten, zeigt deutlich die von den Orientalen bewahrte mystische Sicht von Al-Andalus, die sie sicher noch lange beibehalten werden und die sie über dieses auf ewig verlorene Paradies >weinen< lassen wird«, heißt es bei Pérès, und auch damit hatte er recht. Hundert Jahre nach Zaki schreibt Jayyusi in ihrem Vorwort: »die Araber und Muslime haben alle stillschweigend und ohne Absprache Al-Andalus als eine ewig bleibende Erinnerung in ihrem Herzen erwählt . . . Viele von ihnen betrachten es auch als ein verlorenes Paradies, und die beständige Trauer über seinen Verlust wurde erheblich vertieft durch die jüngst erlittenen Verluste in Palästina.«
Der »Stillschweigend und ohne Absprache«-Teil gefällt mir besonders gut. Unverändert auch nach hundert Jahren die kompensatorische Funktion von Al-Andalus: »die Echos einer ruhmreichen andalusischen Vergangenheit wurden in der arabischen Psyche lebendig bewahrt, und Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts entdeckten darin ein anschauliches Thema, wodurch sie Katharsis und Bestätigung in einer Welt der Ablehnung und der Mißverständnisse suchten.« Aber Ablehnung und Mißverständnisse der bösen Welt draußen sind nicht das wirkliche Problem. Die fortdauernde Popularität und Propagierung des Al-Andalus-Kultes sind Symptom der fortdauernden Misere und Rückständigkeit der islamischen Welt, der dieser Kult als Kompensation und Trostpflaster dient.
Das europäische Interesse am muslimischen Spanien wurde im 18. Jahrhundert durch die Aufklärung und deren Islamophilie vorbereitet. Ein idealisiertes Bild der islamischen Welt – ihrer quasi aufgeklärten deistischen Religion (keine Kirche, keine Geistlichen, keine Inquisition, keine Bücherverbrennungen oder Autodafés, so glaubte man), ihrer Toleranz, ihrer gerechten Gesetzgebung und undogmatischen Vernunft – diente als Mittel der Beschämung und Kritik des christlichen, insbesondere des katholischen Europa. Autoren wie Pierre Bayle oder Edward Gibbon, Montesquieu, Voltaire (nach dem Mahomet) oder Lessing, deren Einfluß man kaum überschätzen kann, malten aktiv an diesem Bild des edlen Muslim oder Orientalen mit, dessen europakritische Funktion der des edlen Wilden entsprach.
Wie die Figur Saladins zeigt, läßt sich die Idealisierung und Verklärung des Islam in europakritischer Absicht bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Diese Figur weist eine interessante Parallele zu Al-Andalus auf, was ihre Rolle im kollektiven Gedächtnis der Muslime betrifft: Beide waren jahrhundertelang vergessen und wurden erst unter westlichem Einfluß im 19. Jahrhundert neuentdeckt und -bewertet. »So überraschend es klingt, Saladin, der bald im mittelalterlichen Europa in den Jahrhunderten nach den Kreuzzügen idealisiert und von der europäischen Aufklärung geradezu enthusiastisch einem heroischen Muster angepaßt wurde – man denke nur an seine Darstellung bei G. E. Lessing und Sir Walter Scott – wurde jahrhundertelang im Nahen Osten ignoriert.«*)
Saladin wurde in literarischen Werken des europäischen Mittelalters zu einer »Idealfigur der Ritterlichkeit«. Er ging ein »in die europäische Legende als satirischer Kritiker europäischer Moral und sogar als der gute Mensch, der bemüht war, die Wahrheit des Christentums anhand der christlichen Praxis auf eine Probe zu stellen, die sie nicht bestand. Das war ein beliebtes Verfahren der Moralisten«, und so »wurde er eine Figur der christlichen Homiletik«.*) Als solches islamische Tugendmodell und Beschämungs- und Läuterungsinstrument taucht er dann in der Aufklärung wieder auf. Als Kaiser Wilhelm II. auf seiner Orientreise 1898 das Grab Saladins in Damaskus aufsucht, lobt er ihn in einer Rede als »Ritter ohne Furcht und Tadel«, der oft seine christlichen Gegner wahre Ritterlichkeit gelehrt habe. Kurzum: Im 18. Jahrhundert begannen die Europäer an die islamische Toleranz und höhere Menschlichkeit zu glauben, ab dem 19. Jahrhundert schlossen sich die Muslime ihnen an, und im 20. glaubten schließlich auch die Islamwissenschaftler daran.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts war demgegenüber das europäische Spanienbild auf seinem Tiefpunkt angelangt – »Spanien« war unter dem Einfluß protestantischer Propaganda und aufklärerischer Kritik zum Troglodyten unter den Völkern Europas geworden. Was die Spanier die »schwarze Legende« nennen, wurde damals geboren (bleibende Wirkung übten dabei in Deutschland Goethes Egmont und Schillers Don Carlos aus). Sie war aber nur gegen das katholische Spanien, nicht das muslimische gerichtet, wirkte sich vielmehr positiv auf das Bild des muslimischen Spanien aus, insofern dessen Bewohner als Opfer spanischer Gewalt und religiösen Fanatismus gesehen wurden – die Vertreibung der Morisken Anfang des 17. Jahrhunderts war einer der Hauptpunkte aufklärerischer Spanienkritik – und damit im Umkehrschluß als Freunde der Toleranz und des religiösen Pluralismus. Der britische Historiker L. P. Harvey stellt fest: »Weil sich zuweilen liberale Gegner des katholischen Extremismus der Sache des spanischen Islam angenommen haben, gibt es eine Tendenz anzunehmen, daß die Feinde des Katholizismus liberal und tolerant waren. Wie wir sahen, entspricht das in keiner Weise den Tatsachen.«*)
Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird dann Al-Andalus in und für Europa neuentdeckt und neubewertet, und zwar im Rahmen eines grundlegenden Wandels des Spanienbildes.*) Die weitestgehenden Ansprüche hinsichtlich der Bedeutung des muslimischen – man sprach damals meist vom arabischen oder maurischen – Spanien wurden von Herder formuliert: Im Kontakt und Konflikt mit den Arabern wird Europa als spezifische, von der Antike und der barbarischen Vorgeschichte unterschiedene Kultur konstituiert. Durch die »Berührung mit dem orientalischen Genius« wird Spanien zur »Wiege« des neuen Europa.
Die Araber gelten Herder als die »Lehrer Europas«, die das »helle Licht« ihrer Kultur in die »Dunkelheit« getragen haben: Europas »erste Aufklärung«. James Cavanah Murphy erklärt als Ziel seiner vierzehnjährigen Arbeit an den Arabian Antiquities of Spain (1815), es dem Leser zu ermöglichen, »sich ein genaues Bild zu machen von dem sehr hohen Grad der Vervollkommnung, den die spanischen Araber in den schönen Künsten erreichten, während im übrigen Europa noch Ignoranz und Barbarei herrschten«.*) In Washington Irvings enorm populären Tales of the Alhambra heißt es dann 1832, die Araber »verbreiteten das Licht orientalischen Wissens in den westlichen Teilen des finsteren Europa«. Was einmal ein kühner Gedanke, eine überraschende Entdeckung war, wird bald zur endlos und reflexhaft wiederholten Formel, die nichts anderes mehr zum Ausdruck bringt als eine eitle Zurschaustellung der eigenen Vorurteilslosigkeit.
Für Herder reicht der arabische Einfluß aber noch weiter: Mittelbar haben sie durch den Einfluß arabischer Poesie auf die Provenzalen und deren zum erstenmal volkssprachliche Literatur den »Despotismus der lateinischen Sprache« gebrochen, unter dem alle anderen Völker Europas noch schmachteten, und so »für ganz Europa Freiheit der Gedanken bewirkt«. »Sind wir den Provenzalen und ihren Erweckern, den Arabern, nicht viel schuldig?« (Man muß freilich die Herdersche These vom sprachlichen Weltbild teilen, um diesem Argument folgen zu können. Und die Diskussion über den Einfluß arabischer Poesie auf die provenzalische ist bis heute nicht entschieden.)
Die zentrale Bedeutung der Volkssprache in Herders Theorie mußte sein Interesse auf die spanischen Romanzen lenken (»el romance«: in der romanischen Volkssprache Geschriebenes), und seine und anderer Bemühungen um Übersetzung und Verbreitung dieser Romanzen waren nicht nur, wie bekannt, literarisch und künstlerisch äußerst anregend, sie trugen auch entscheidend zur Neuentdeckung und positiven Neubewertung der maurischen Kultur von Al-Andalus bei. In den Grenzromanzen (»romances fronterizos«), deren Thema die Kämpfe an der Grenze zwischen christlichem und islamischem Spanien sind, »zwischen Rittern und Rittern«, wie Herder schreibt, treten die muslimischen Kämpfer als gleichwertige auf. Harvey bemerkt dazu: »in den kastilischen Balladen werden beide Seiten als mit denselben bewundernswerten moralischen Eigenschaften durchdrungen dargestellt, beide achten sie denselben ritterlichen Verhaltenskodex. Was die eine Gruppe von Menschen von der anderen unterscheidet, ist eine Reihe von gänzlich oberflächlichen Unterschieden in Kleidung und Sprache. Bösewichte fehlen in dieser Grenzliteratur«. Und an anderer Stelle heißt es: »Eine der bemerkenswerten Eigenschaften dieser Grenzballaden besteht darin, daß sie, obwohl auf kastilisch geschrieben, oft eine bemerkenswerte Empathie mit den (muslimischen) Bewohnern Granadas und ihrem schweren Los zum Ausdruck bringen.«
Daneben sind die »romances moriscos« zu nennen, die nach 1492 verfaßt wurden und laut Metzler Literatur Lexikon »das Leben spanischer Mauren idealisieren«. Ein Teil dieser Romanzen findet sich in dem sehr einflußreichen, um 1600 erschienenen historischen Roman Ginés Pérez de Hitas, Historia de los Vandos de los Zégries y Abencerrajes, der »seine starke Sympathie für die Mauren« zum Ausdruck bringt und im ersten Teil »ein verklärtes Bild« Granadas zeichnet, wie Kindlers Literatur Lexikon festhält. Die deutsche Übersetzung erschien 1821 unter dem Titel Geschichte der bürgerlichen Kriege in Granada.
Das Mauren- und Abenceragen-Motiv wird im 16. Jahrhundert auch in anderen Prosawerken und in Romanzen behandelt, es findet sich in Montemayors Diana und in dramatisierter Form bei Lope de Vega (El remedio en la desdicha). Alle diese literarischen und historischen Werke, die das Bild des maurischen Spanien in Europa entscheidend mitbestimmten, gehören zum Phänomen der »literarischen Maurophilie«, wie der französische Hispanist G. Cirot es im Bulletin Hispanique (1938, 1939) genannt hat, bringen Mitleid und Sympathie und oft eine bis zur Verherrlichung gehende Bewunderung der Mauren und Moriskos zum Ausdruck – »Es ist ein eigenartiges Phänomen kollektiver Schwärmerei«, schreibt Cirot – und tragen so entscheidend zum »Araberkult« des 18. und 19. Jahrhunderts bei.
Graf Adolf Friedrich von Schack, der Verfasser von Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sizilien (1865), Übersetzer arabischer Poesie und – zusammen mit Geibel – spanischer Romanzen, hatte bereits ein halbes Jahrhundert vor Cirot auf das Phänomen der Maurophilie in der spanischen Literatur nach dem Fall Granadas aufmerksam gemacht: Es sei damals Mode geworden, »die Mauren zu besingen, ihre Ritter wie Damen zu feiern und das ganze arabische Leben in glänzenden Farben darzustellen«. Mit Chateaubriands Le dernier Abencerage (1826) und Washington Irvings Tales of the Alhambra wird die Geschichte der Abenceragen endgültig Teil der Weltliteratur, und der damit einhergehende Granada- und Alhambrakult wird zur Hauptausdrucksform des Interesses und der Begeisterung für das muslimische Spanien. »Dem von einem Gefühl für das Historische und Poetische durchdrungenen Reisenden ist die Alhambra in Granada ebenso sehr ein Gegenstand der Verehrung wie es die Kaaba oder das heilige Haus in Mekka für alle wahren muslimischen Pilger ist. Wie viele Legenden und Überlieferungen, wahre wie erfundene, wie viele Lieder und Romanzen, spanische und arabische, von Liebe und Krieg und Ritterlichkeit sind mit diesem romantischen Bauwerk verbunden!«
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt das positive romantische Bild des christlichen Spanien zu verblassen, und – in Deutschland auch unter dem Einfluß des Kulturkampfes – das alte negative Spanienbild der »schwarzen Legende« tritt wieder in den Vordergrund. Das Bild des muslimischen Spanien ist davon jedoch nicht betroffen – im Gegenteil, es dient nun als positives Kontrastbild. Das zeigt sich in zahlreichen Reiseberichten, wo der Escorial der Alhambra oder der Moschee von Córdoba gegenübergestellt wird. Da tritt »die Gestalt des finsteren Philipp« gegen »die märchenhafte Welt der Omejadenkalifen« an, Fanatismus und Inquisition gegen »das Spiel einer ringenden, strebenden Jugend«, »die Türme der Inquisition mit ihren zwanzig Gefängnissen und sieben Patios, ein Labyrinth des Schreckens« gegen »arabische Mauerbogen, Grottenwerke und rauschende Brunnen«. Spanien spaltet sich so in einen Dr. Jekyll und einen Mr. Hyde, »in eins, das höchster Verehrung, und in ein anderes, das aller Verachtung würdig ist. Dieses zweite, das verabscheuungswürdige, ist das der Inquisition. Und naturgemäß vergegenständlicht es sich im Escorial, der Bauphantasie eines Despoten, der Land und Volk verdummte und ruinierte . . . Als Gegenstück dazu die Alhambra. In ihr scheint das andere Spanien, das üppige, lebensbejahende, das wissende, künstlerische, das Spanien der farbigen Lust«.*) Schon 1865 hatte der Kirchengeschichtler P. B. Gams die zahlreichen Vertreter dieser Tendenz als »Halbmondsüchtige« verspottet.
Unter den Gebildeten wird es nun zum obligatorischen Gestus, der christlichen Kultur die muslimische vorzuziehen: Spanien sei »recht eigentlich ein Land der Todten«, schreibt Heinrich von Treitschke 1886 aus Spanien. »Alles, aber auch alles Schöne und Gute . . . ist durch die Mauren geschaffen . . . Man könnte hier Muhammedaner werden.« Er überlegt es sich dann aber doch: »froh werde ich sein, wieder in die protestantische Welt zu kommen«. Der britische Historiker Stanley Lane-Poole schreibt in seinem The Moors of Spain (1897): »Die Geschichte Spaniens bietet uns einen melancholischen Kontrast. Fast acht Jahrhunderte lang gab Spanien unter seinen muslimischen Herrschern ganz Europa ein leuchtendes Beispiel für einen zivilisierten und aufgeklärten Staat . . . Mit Granada fiel auch alle Größe Spaniens . . . Es folgten . . . die Schwärze und Finsternis, worin Spanien seitdem versunken ist.«*) Ein anderer Briefschreiber teilt aus Spanien mit: »Übrigens müssen Sie wissen, . . . ich bin seit Córdoba von einer beinah rabiaten Antichristlichkeit, ich lese den Koran, er nimmt mir, stellenweise, eine Stimme an, in der ich so mit aller Kraft drinnen bin, wie der Wind in der Orgel.« So 1912 Rainer Maria Rilke.
Ich fasse zusammen: Von Ignorieren, Verschweigen, Indifferenz gegenüber Al-Andalus kann in Europa für den behandelten Zeitraum keine Rede sein. Es überwiegen bei weitem Interesse, Hochschätzung, ja Begeisterung, die sich auch aktiv äußern – in Reisen, literarischer und anderer künstlerischer Produktion, Übersetzungen und Editionen, Forschungsarbeit und wissenschaftlichen Publikationen. Es ist seit geraumer Zeit üblich, so etwas als »Orientalismus« abzutun und als Ausdruck eines besonders heimtückischen Defekts westlicher Gesellschaften darzustellen. Was soll man dazu sagen?*)
Der Mythos vom muslimischen Spanien als Goldenem Zeitalter und von der islamischen Toleranz wurde gepflegt und entscheidend gefördert von den europäischen, insbesondere von den deutschen Juden. Auf diesen – von der heutigen Konfliktsituation aus betrachtet – paradoxen Sachverhalt hatte Bernard Lewis wohl als erster hingewiesen. »Der Mythos spanisch-islamischer Toleranz wurde besonders von jüdischen Gelehrten gefördert, denen er als Stock diente, um ihre christlichen Nachbarn zu schlagen.« Der allgemeine Rahmen dafür, so Lewis, war die protürkische und islamophile Haltung der Juden im 19. Jahrhundert – ein Beispiel dafür ist der weit überproportional hohe Anteil der Juden an den Orientalisten – und der romantische Spanienkult, der um 1830 auf das muslimische Spanien ausgedehnt worden sei und das Interesse auf die spanischen Juden gelenkt habe und ihr tragisches Schicksal der Vertreibung durch die Intoleranz der katholischen Könige. In Disraelis Coningsby (1844) wird Al-Andalus als »jene schöne und unübertroffene Zivilisation« besungen, in der »die Kinder Ismaels (die Araber) die Kinder Israels mit gleichen Rechten und Privilegien belohnten. Während dieser seligen Jahrhunderte fällt es schwer, die Gefolgsleute Moses’ von den Anhängern Mohammeds zu unterscheiden. Beide erbauten sie gleichermaßen Paläste, Gärten und Brunnen, versahen gleichberechtigt die höchsten Staatsämter, konkurrierten in einem in die Ferne reichenden und aufgeklärten Handel und wetteiferten miteinander an berühmten Universitäten.«
Wie Lewis vernachlässigt auch Mark R. Cohen bei der Erklärung des Mythos Al-Andalus die europäische Aufklärung im allgemeinen und die jüdische (Haskalah) im besonderen und setzt die Entstehungszeit des Mythos viel zu spät an. Er ergänzt aber das Bild: Die mitteleuropäischen Väter der jüdischen Geschichtsschreibung haben im 19. Jahrhundert die Geschichte der Juden unterm Islam in der Form eines »Mythos interreligiöser Utopie« dargestellt, der bald zum »historischen Postulat« wurde.*) Frustriert vom schleppenden Voranschreiten der Emanzipation der Juden, suchten jüdische Intellektuelle nach einem historischen Präzedenzfall für Toleranz gegenüber den Juden und fanden ihn im muslimischen Spanien, wo diesen, wie sie glaubten, ein bemerkenswert hoher Grad der Tolerierung, politischen Erfolgs und kultureller Integration gewährt worden war. Eine wichtige Rolle habe dabei der deutsche protestantische Gelehrte Franz Delitzsch gespielt mit seinem Werk Zur Geschichte der jüdischen Poesie (1836), worin die Zeit von 940 bis 1040 – ungefähr die des Kalifats von Córdoba – als das Goldene Zeitalter jüdischer Poesie bezeichnet wird. Das wurde nun auf den gesamten Zeitraum der muslimischen Herrschaft in Spanien ausgedehnt und auf den gesamten politisch-sozialen Bereich; so entstand der »Mythos interreligiöser Utopie«, dessen Zweck es gewesen sei, das christliche Europa herauszufordern, die Emanzipation der Juden in allen Bereichen zu verwirklichen. Dieser Mythos, an dessen Propagierung sich die Vertreter der »Wissenschaft vom Judentum« beteiligten, zumal Heinrich Graetz, überlebte auch die Emanzipation der Juden und setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Cohen: »Man kann sagen, daß das Bild des Goldenen Zeitalters sowohl in der Forschung wie in der Populärversion weiterhin bestimmend ist.«
Dem jüdischen Mythos vom muslimischen Spanien liegt, so ist Ismar Schorschs instruktivem Aufsatz zu entnehmen, der Sephardim-Mythos zugrunde.*) Danach hatten die deutschen Juden die Sephardisierung als den aussichtsreichsten Weg zur vollen Emanzipation und Integration in die deutsche Gesellschaft gesehen. Sie ermöglichte es den deutschen Juden, sich zu verwestlichen und zugleich ihre jüdische Identität zu bewahren. Ihre Lösung vom aschkenasischen Judentum bedeutete nicht nur Verwestlichung und eine Zurückweisung von Tradition, sondern auch eine Suche nach einem »jüdischen Paradigma, das Rebellion gegen die Institutionen in jüdischem Boden verankern konnte«, und sie fanden dieses Paradigma im religiösen Erbe der Sephardim, ohne das sie sich gänzlich vom Judentum gelöst hätten. So konnte die Kritik des aschkenasischen Judentums vom Standpunkt »einer brauchbaren Vergangenheit« aus vorgenommen werden. Ein Bild der Sephardim wurde »konstruiert«, das eine religiöse Haltung ermöglichte, die durch kulturelle Offenheit, philosophisches Denken und Wertschätzung des Ästhetischen gekennzeichnet war: Ein »historischer Mythos«, so Schorsch, der sowohl dem Erneuerungsstreben entgegenkam wie dem Wunsch nach Kontinuität. Heine ist, mit seiner zuweilen ostentativen Sephardität, ein typisches Beispiel für die sephardische Wende, hat sich jedoch an der oft damit einhergehenden Verächtlichmachung der aschkenasischen Juden nicht beteiligt. 1820 legte Eduard Gans, Vorsitzender des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, der preußischen Regierung eine Petition vor, in der er die behördliche Erlaubnis für den Namen und die Aktivitäten des Culturvereins erbat. Gans verwies auf die Geschichte der spanischen Juden, die allen anderen sowohl physisch wie geistig ähnlich gewesen seien und denen von den Arabern Gleichheit mit den Muslimen gewährt worden sei – zum Vorteil und Nutzen beider Seiten.
Die »romance with Spain«, der Wechsel von Polen zu Spanien, war schon in der Haskalah, der deutsch-jüdischen Version der Aufklärung, vorgezeichnet, der der aus Córdoba stammende sephardische Maimonides mit seinem Führer der Unschlüssigen als der große intellektuelle Emanzipator galt. Hinzu kam das Beispiel der rechtlich und wirtschaftlich weitaus besser gestellten und assimilierten sephardischen Juden in Amsterdam, London, Bordeaux, Hamburg .
. . Schorsch belegt diese »romance with Spain« anhand zahlreicher Beispiele, von der Liturgie und Synagogenarchitektur zu den historischen Romanen jüdischer Autoren, vor allem aber der »Wissenschaft vom Judentum«: »Die Entwicklung der modernen jüdischen Wissenschaft kann nicht losgelöst vom Spanienmythos verstanden werden, und kein anderes Gebiet der modernen jüdischen Kultur stand denn auch so lange in seinem Bann . . . Das historische Denken des modernen Judentums wurde mit spanischer Kost großgezogen.« Zusammen mit den Arabern werden nun die Juden zu den Lehrern Europas, die den Barbaren im Norden zeigten, was eine zivilisatorische Harke ist. Salomon Munk formuliert das 1846 so: »Den Juden kam zweifelsohne zusammen mit den Arabern das Verdienst zu, die Wissenschaft der Philosophie in den Jahrhunderten der Barbarei bewahrt und verbreitet zu haben, und dadurch übten sie lange Zeit einen zivilisierenden Einfluß auf Europa aus.« Die sephardischen Juden stehen nun für eine Epoche in der jüdischen Geschichte, die den religiösen Fanatismus und die kulturelle Engstirnigkeit des christlichen Europa beschämte.
Aber die sephardische Kultur Spaniens war nicht nur ein nachträgliches Konstrukt, ein Mythos; in der Begegnung mit der islamischen Kultur, Philosophie und Wissenschaft und darüber mit der griechisch-hellenistischen hatte sich das spanische Judentum tatsächlich nach außen geöffnet und grundsätzlich gewandelt. »Paradoxerweise hatte der Kontakt mit dem Islam das Judentum zu einem Teil der westlichen Welt gemacht.« So hätten die Araber nicht nur den europäischen Christen, sondern – über die Sephardim – auch den europäischen Juden auf dem Weg in die Moderne geholfen. Bleibt nur noch zu klären, warum sie ihn nicht selber eingeschlagen haben. Jedenfalls müßten auch die Juden sich mit Herder die rhetorische Frage stellen, ob sie den Arabern nicht viel schuldig seien.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb die Romanze von der interreligiösen Harmonie und der jüdischen Gleichberechtigung auf der Grundlage islamischer Toleranz unangefochten. Was aber im 19. Jahrhundert zur Beschämung des christlichen Europa und zur Förderung jüdischer Gleichberechtigung und Anerkennung nützlich gewesen sein mochte, drohte sich spätestens mit der Gründung des Staates Israel und den darauf folgenden Kriegen und Konflikten gegen die israelischen Juden zu kehren. Von arabischer Seite wurde der Mythos interreligiöser Utopie zunächst, wie wir sahen, als Beweis arabischer zivilisatorischer Höchstleistungen aufgegriffen, dann aber auch – mit der Verschärfung des Konflikts in Palästina – gegen Zionismus und Israel eingesetzt. 1974 erklärte Jasir Arafat schließlich vor der Vollversammlung der Uno: »Die Araber (Palästinas) . . . verbreiteten jahrtausendelang Kultur im ganzen Lande, stellten ein Beispiel dar für die Praktizierung religiöser Toleranz und Glaubensfreiheit und hüteten als treue Wächter die heiligen Stätten aller Religionen . . . Unser Volk verfolgte diese aufgeklärte Politik weiter bis zur Errichtung des Staates Israel und seiner Vertreibung.«
Wenn das harmonische Miteinander von Juden und Muslimen unterm Islam durch den Zionismus und die Etablierung des Staates Israel beendet wurde, dann bedarf es nur des Verzichts auf Zionismus und Israel, um die frühere interreligiöse Harmonie wiederherzustellen. So heißt es in der Hamas-Verfassung: »Nur im Schatten des Islam konnten die Gläubigen aller Religionen sicher koexistieren und ihr Leben, Eigentum und ihre Rechte geschützt finden . . . (Hamas) fühlt sich der dem Islam innewohnenden Toleranz gegenüber anderen Religionen verpflichtet . . . Schutz und Sicherheit kann es nur im Schatten des Islam geben, und neue wie alte Geschichte sind der beste Zeuge dafür.«
Schon 1946 hatte der jüdische Historiker Cecil Roth darauf hingewiesen, daß die 19. Jahrhundert-Version der jüdischen Idylle unterm Islam die Gefahr in sich berge, »uns auf die Dauer erheblich zu schaden«, wobei er auf die Schriften antizionistischer Araber verwies. Aber seine Warnung blieb ungehört. Noch 1966 erschien in Jerusalem eine Geschichte der Juden im muslimischen Spanien, die laut Cohen »das Goldene Zeitalter bis zur Romantisierung glorifiziert«. Erst mit dem Sechs-Tage-Krieg änderte sich die Situation. 1967 druckte der Near East Report des America-Israel Public Affairs Committee Cecil Roths Essay erneut ab, im Rahmen allgemeiner Informationen zum »Hintergrund für den arabisch-israelischen Krieg«, was Anstoß war für eine ganze Reihe von revisionistischen Artikeln zum Thema. Hinzu kamen nun auch genauere Kenntnisse unter den Juden über den arabischen Antisemitismus. Was die Geschichtsschreibung längst aus Interesse an der historischen Wahrheit hätte erbringen müssen, eine Kritik und Korrektur des idyllischen Bildes von Al-Andalus und islamischer Toleranz, wurde nun aus politischen Motiven vorgenommen.
Daß ausgerechnet Maimonides – und noch vor den anderen sephardischen Genies wie Solomon ibn Gabirol oder Judah Halevi – zum Symbol des Goldenen Zeitalters der Juden in Al-Andalus und der dort praktizierten Toleranz geworden war, zeigt die märchenhafte Unbekümmertheit dieses Bildes gegenüber den historischen Fakten. Als Maimonides 1135 in Córdoba geboren wurde, gab es bereits fast keine christlichen – und bald auch keine jüdischen – Gemeinden mehr in Al-Andalus. Hatte die Zahl der Christen im ersten Jahrhundert der islamischen Eroberungen noch etwa 90 Prozent betragen, war sie nun gegen Null gesunken. Was erklärt diesen gewaltigen Verlust an Gläubigen, der sich deutlich unterscheidet vom Überleben der christlichen Gemeinden in den Ländern östlich des Maghreb?
Darüber gibt es nur mehr oder minder gut begründete Vermutungen, sicher aber scheint mir, daß die bis zu Vertreibungen, Zwangskonversionen und Massakern gehende Politik der Almoraviden und Almohaden gegenüber den Nicht-Muslimen dabei eine Rolle gespielt hat. Maimonides selbst wurde in eine Zeit der Verfolgung der Juden durch die Almohaden geboren, und am Ende des Jahrhunderts gab es in Al-Andalus wie im Maghreb keine Synagoge (oder Kirche) und keine offen ihren Glauben bekennenden und praktizierenden Juden (oder Christen) mehr. 1148 wurde Al-Andalus Teil des Almohaden-Reiches, als Maimonides dreizehn Jahre alt war, und im Verlauf der einsetzenden antijüdischen Verfolgungen scheint die Familie Córdoba verlassen zu haben und »von Ort zu Ort« geflohen zu sein. Während die meisten Juden in den christlichen Ländern im Norden Zuflucht suchten oder in den islamischen des östlichen Mittelmeerraums, blieb die Familie Maimonides bis spätestens 1160 in Spanien, in welchem Jahr die Anwesenheit des Vaters und der beiden Söhne in Fes belegt ist – in der Hauptstadt der Almohaden-Bewegung merkwürdigerweise. Die Gründe dafür sind nicht geklärt.
Lange und mit viel Scharfsinn ist darüber diskutiert worden, ob Maimonides (unter Zwang) konvertierte oder nicht. Auf alle Fälle war die Zwangskonversion damals eine immer präsente Drohung. Anders formuliert: Dreieinhalb Jahrhunderte vor den katholischen Königen zwangen die Almohaden den Juden die Wahl zwischen Konversion, Vertreibung oder Tod auf. »Wir sind fast völlig versunken«, schreibt der Vater aus Fes, »aber wir klammern uns noch an etwas. Wir sind überwältigt von Erniedrigung und Verachtung, umgeben vom Meer der Gefangenschaft, und wir sind in seine Tiefen versunken, und das Wasser reicht uns bis ans Gesicht«.*) 1165 werden in Fes zahlreiche Juden von einem Inquisitionsgericht hingerichtet, darunter der berühmte Rabbi Judah ha-Cohen, der auf dem Scheiterhaufen endet – es ist unklar, ob sich die Juden geweigert hatten, zum Islam zu konvertieren, oder ob sie nach der Konversion rückfällig geworden waren. Der Familie Maimonides, ebenfalls bedroht, gelingt es mit Hilfe eines muslimischen Freundes zunächst nach Palästina, dann nach Ägypten zu entkommen. Dort fand Maimonides nun Ruhe, schrieb seine berühmten Werke und war für seinen Schutzherrn al-Fadhel, den Wesir Saladins, als Arzt am Hofe tätig.
Daß damit nun endlich der Zustand interreligiöser Harmonie gefunden war, darf anhand eines vielzitierten Briefes von Maimonides bezweifelt werden. In seiner Antwort an die Juden des Jemen anläßlich der dortigen Pogrome heißt es: »Bedenkt, meine Glaubensgenossen, daß Gott uns unserer großen Sündenlast wegen mitten unter dieses Volk, die Araber, geschleudert hat, die uns erbittert verfolgten und verderbliche und diskriminierende Gesetze gegen uns erlassen haben . . . Nie hat uns je ein Volk so beschwert, erniedrigt, gedemütigt und gehaßt wie sie . . . wir wurden von ihnen in unerträglicher Weise entehrt«. Und im letzten seiner erhalten gebliebenen Briefe schrieb er, daß unter den Arabern zu leben, »Dunkelheit auf die Strahlen der Sonne wirft«. Also, wenn Sie mich fragen: Goldenes Zeitalter ist anders!
Daß die Juden unter den Arabern mehr gelitten hätten als unter jedem anderen Volk, war damals schon (und wäre heute erst recht) eine Übertreibung, die sich aus Maimonides’ Unkenntnis der Situation im christlichen Europa erklärt. Aber Maimonides als Symbol des toleranten Goldenen Zeitalters von Al-Andalus anzuführen, ist absurd angesichts seiner Lebensgeschichte und der historischen Ereignisse jener Zeit. Es wäre jedoch ebenso falsch anzunehmen, daß Maimonides’ wirkliches Schicksal typisch war für die gesamte Geschichte des muslimischen Spanien. Die in den Briefen Maimonides’ und seines Vaters geäußerte Klage über Demütigung und Verachtung seitens der Muslime ist ein Leitmotiv in den jüdischen Beschreibungen Al-Andalus’, selbst noch der erfolgreichsten und mächtigsten Juden, wie etwa Hasdai ibn Shapruts, Wesir des größten der Kalife Córdobas, Abd al-Rahmans III. Daß Juden und (selten) Christen hohe Regierungsstellen einnehmen konnten, Wesire und Vertraute des Herrschers wurden, gilt als schlagender Beweis für das Klima der Toleranz und interreligiösen Harmonie in Al-Andalus. Es wäre jedoch ein anachronistisches Mißverständnis anzunehmen, es handelte sich dabei um Toleranz im modernen Sinne, als ginge es darum, die Gleichheit aller Bürger – ohne Unterschied der Religion etc. – vor dem Gesetz zu verwirklichen. Vor dem Gesetz waren die Ungläubigen emphatisch nicht gleich!
In Al-Andalus war die malikitische Rechtsschule, die älteste der vier orthodoxen islamischen Rechtsschulen, die allein anerkannte; islamischem Recht zufolge darf kein Ungläubiger Macht oder Befehlsgewalt über einen Muslim ausüben – das war aber unvermeidbar, wenn jene hohe Regierungsstellen innehatten. Ein Herrscher, der Juden oder Christen in solche Positionen berief oder dort auch nur duldete, verhalf nicht dem Recht zur Geltung, er verstieß offen dagegen. Die Ungläubigen verdankten also ihre hohe Stellung einzig der Willkür, der unumschränkten Macht des Herrschers. Das schuf eine hohe Loyalität diesem gegenüber, denn mit seinem Fall ging oft auch der seiner »Hofjuden« einher. Das Interesse des Herrschers an einer solchen prekären widerrechtlichen Situation (die Ulama, die islamischen Geistlichen, Theologen und Rechtsgelehrten, stellten einen bedeutsamen gesellschaftlichen und politischen Machtfaktor dar) bestand wesentlich auch darin, daß die Ungläubigen nicht in die tribalen und Familienbeziehungen eingebunden waren, die den Herrscher bedrohten.
Herrscher zu sein, war nicht nur im islamischen Mittelalter ein lebensgefährlicher Beruf (es geschah häufig, daß nicht nur andere Große des Reiches mit ihren Familien und Stämmen um diese Position konkurrierten, sondern auch Brüder, Söhne und andere Verwandte des Herrschers, und sie alle schreckten vor Mord nicht zurück, wenn es ihnen ernst war). Ein Jude oder Christ aber konnte, so hoch er auch gestiegen war und wieviel Macht er auch auf sich versammelt hatte, unmöglich erhoffen, selber Herrscher zu werden – im Gegenteil, er mußte das Ende des Herrschers fürchten, denn dann konnte es geschehen, daß ihn nichts und niemand mehr vor dem Groll und Ressentiment seiner ehemaligen Untergebenen, der Ulama und des Volkes schützte. Was immer die Herrscher Al-Andalus’ über die Nichtmuslime und deren Tolerierung und Rechte gedacht haben mögen, als Herrscher konnten sie an deren politischer Karriere nur interessiert sein, soweit diese durch ihre überragende Kompetenz ihrer Regierung nützlich waren und durch ihre prekäre, widerrechtliche Stellung ihre Herrschaft sichern halfen.
Die Moral dieser Geschichte vom Bild Al-Andalus’ in der Geschichte hat der weise Bernard Lewis vor einem Vierteljahrhundert formuliert: »Es ist vollkommen natürlich und normal, daß die von einem Historiker an die Vergangenheit gestellten Fragen ihm von den Ereignissen seiner eigenen Zeit eingegeben werden, und es läßt sich viel lernen, wenn eine solche Fragestellung verfolgt wird. Unzulässig ist es jedoch, wenn die Belange der eigenen Zeit nicht nur die Fragen, sondern auch die Antworten eingeben.«
© Merkur, Nr. 651, Juli 2003
Diesen Artikel haben wir mit freundlicher Erblaubnis der Redaktion Merkur und des Autors veröffentlicht. Im Merkur erschien auch der frühe Essay von Siegfried Kohlhammer: "Die Feinde und die Freunde des Islam", der auch 2004 in der alten Sichel veröffentlicht wurde, nach deren Löschung wieder hier erschienen.